Kollegiale Fallberatung: Die Schwarmintelligenz des Teams
Lösungsorientierte und wirkungsvolle Unterstützung ermöglicht die „kollegiale Fallberatung“ – eine Methode der selbst organisierten Beratung im professionellen Umfeld. Inse Böhmig, Coach und Trainerin, leitet Kurse zu diesem Thema im WILA Bildungszentrum.
Interview: Anja Schreiber
Können Sie die Methode der kollegialen Fallberatung vorstellen?
Diese Methode ermöglicht es Teams, Arbeitsgrup-pen und selbstorganisierten Gruppen von Peers, sich wirkungsvoll zu unterstützen und voneinander zu lernen. Dabei übernimmt die Beratung nicht jemand von außen, sondern die Gruppe oder das Team selbst. Für die Lösungen von Problemen, die ein Mitglied hat, nutzt die Gruppe ihre Schwarmintelligenz. Das Besondere bei dieser Beratung ist, dass die Rollen rotieren. Mal bringt man selbst einen Fall ein, mal berät man. Die Person, die den Fall einbringt, erhält von der Gruppe Impulse für neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten.
Wann kann man eine kollegiale Fallberatung anwenden? Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Das können ganz unterschiedliche Fälle sein. So kann es um Probleme im Team oder um persönliche Herausforderungen gehen, wie etwa eine Veränderungssituation im Unternehmen. Die verschiedenen Konfliktparteien sollten allerdings nicht Mitglieder der beratenden Gruppe sein. Folgender Fall ist möglich: Eine Teilnehmerin hat eine neue Stelle angetreten. Ihre Aufgaben machen ihr Spaß, aber sie hat das Gefühl, dass sie bei ihrer neuen Arbeit ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Deshalb ist sie unzufrieden. Ein anderer häufiger Fall ist, wenn ein Gruppenmitglied eine*n unzuverlässige*n Kolleg*in hat, der oder die sich nicht an Absprachen hält.
Wie läuft nun ganz konkret die Fallberatung ab?
Zuerst werden die Rollen festgelegt, wer die Moderator*innen, Fallgeber*innen und Berater*innen sind. Dann wird die Frage geklärt, welcher Fall behandelt wird. Anschließend schildert die oder der Fallgeber*in das Anliegen. Daraus entwickelt die Gruppe eine zielgerichtete Schlüsselfrage. Diese sollte handlungs- und lösungsorientiert sein. Nun sprechen die Beratenden über ihre Ideen oder eigenen Erfahrungen. Dabei werden in der Regel unterschiedliche Perspektiven geschildert. Während die Gruppe zu Wort kommt, hört die oder der Fallgeber*in zu. Im vorletzten Schritt gibt sie oder er den Beratenden eine Rückmeldung darüber, was ihr oder ihm spontan hilfreich erscheint. Es geht übrigens nicht darum, der oder dem Fallgeber*in eine fertige Lösung anzubieten. Sie oder er soll vielmehr selbst eine eigene Lösung finden. Zum Schluss schaut die Gruppe noch einmal auf den Beratungsprozess.
Was sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Fallberatung?
Wichtig sind absolute Vertraulichkeit und gegenseitige Wertschät-zung. Bewertungen und Urteile haben in der kollegialen Fallberatung nichts zu suchen. Vielmehr geht es darum, die oder den Fallgeber*in zu inspirieren und zu motivieren. Vor der eigentlichen Fallberatung sollte es aber auf jeden Fall eine Kick-off-Veranstaltung geben, in der jemand aus der Gruppe, der sich mit der kollegialen Beratung aus-kennt, die Methode vorstellt.
Welche Kompetenzen sollten die Gruppenmitglieder mitbringen?
Sie sollten offen, empathisch und gleichzeitig reflektiert sein. Außer-dem ist es wichtig, dass sie aktiv zuhören können und respektvoll mit anderen umgehen. Diese sozialen Fähigkeiten lassen sich in der kollegialen Fallberatung trainieren.
In welchen Settings kann eine Fallberatung stattfinden?
Kollegiale Fallberatungen kann man mit Kolleg*innen durchführen, aber auch mit einer Gruppe von Menschen mit dem gleichen professionellen Hintergrund – also mit sogenannten Peers, die nicht im gleichen Unternehmen arbeiten. Fallberatungen lassen sich sowohl in Präsenz als auch digital abhalten.
Welchen Unterschied macht es, ob man eine Fallberatung im realen oder virtuellen Raum durchführt?
Bei der digitalen Fallberatung sind die Moderator*innen besonders wichtig. Sie sollten die Struktur und den Ablauf im Blick haben und besonders aufmerksam auf die Einhaltung der Regeln achten. Auch für Einstiegsrunden im virtuellen Raum sollten sie sorgen, damit der Small Talk nicht zu kurz kommt. Das ist bei Präsenzveranstaltung meist nicht nötig, da das von alleine geschieht. Gleichzeitig haben gerade virtuelle Fallberatungen zusätzlich Vorteile: Man kann zum Beispiel den Chat nutzen, um Ideen zu sammeln oder die Konzentration auf das Zuhören durch das Abstellen von Mikrofonen und Kameras erleichtern.
Dieser Artikel erschien im Original im WILA Arbeitsmarkt, Ausgabe 5/2023.
Über Inse Böhmig
Ausbildung: Systemische Business Coach, zertifiziert durch Systemische Gesellschaft e.V. (500h)
Website: http://sistemica.org/